Über das Erlernen von Lesen
(Ein Auszug aus „Endlich frei! – Leben und Lernen an der Sudbury-Valley-Schule*“ von Daniel Greenberg) „In beinahe zwei Jahrzehnten hat es an Sudbury Valley nie einen Fall von Legasthenie gegeben. Niemand weiß genau warum. Die Ursache von Legasthenie, ihr Wesen und die Frage, ob es sich dabei überhaupt um eine echte funktionale Störung handelt, sind Gegenstand großer Kontroversen. Einige Fachleute gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent der Bevölkerung unter dieser mutmaßlichen Störung leiden. Die Tatsache ist, dass sie an Sudbury Valley nie vorkam. Was einfach daran liegen könnte, dass wir nie jemanden gezwungen haben, lesen zu lernen. Lesen stellt uns (Erwachsene) auf eine harte Probe. Wie bei allem anderen lassen wir die Initiative vom Kind kommen. Wir treiben niemanden an. Niemand sagt: „Lerne jetzt lesen!“ Niemand fragt: „Hättest du nicht Lust, jetzt lesen zu lernen?“ Niemand suggeriert: „Denkst du nicht, dass es eine gute Idee wäre, jetzt lesen zu lernen?“ Und niemand bietet mit geheuchelter Aufregung an: „Würde es nicht Spaß machen, lesen zu können?“ Unser Credo lautet: Warte, bis der Schüler den ersten Schritt macht. Es ist einfach, nach seinen Überzeugungen zu leben, wenn die Dinge so ablaufen, wie jeder es gern hätte. Nimm meine eigene Familie. Unser ältestes Kind zeigte mit fünf Jahren Interesse am Lesen. Aus eigener Kraft war der Junge mit sechs Jahren Leser. Kein Problem. Alles „funktionierte“ prima. Dann kam unsere zweieinhalb Jahre jüngere Tochter. Wie bei jedem anderen Kind an der Schule warteten wir, bis sie darum bat, im Lesen unterrichtet zu werden – oder es sich selbst beibrachte. Wir warteten. Und warteten. Und warteten. Dass sie mit sechs Jahren nicht las, war für alle o.k. Dass sie mit sieben Jahren noch nicht las, war in den Augen der Leute nicht schlimm. Großeltern und Bekannte begannen sich zu sorgen und machten Andeutungen in unsere Richtung. Dass sie mit acht immer noch nicht las, war in der Familie und unter Freunden ein Skandal. Wir waren die pflichtvergessenen Eltern. Die Schule? Nun, die Schule konnte kaum eine richtige Schule sein, wenn sie zuließ, dass Achtjährige Analphabeten sind, ohne etwas dagegen zu tun. An der Schule schien das niemand zu bemerken. Die meisten ihrer gleichaltrigen Freunde konnten lesen. Einige konnten es nicht. Sie selbst störte das nicht. Ihre Tage an der Schule waren ereignisreich und glücklich. Mit neun Jahren entschied sie, lesen zu wollen. Ich weiß nicht, warum sie damals die Entscheidung traf, und sie erinnert sich nicht. Mit neuneinhalb konnte sie alles Mögliche lesen. Jetzt war sie für niemanden mehr ein „Problem“. Natürlich war sie nie ein Problem gewesen.“ ... *Sudbury-Valley-Schulen: An diesen „Schulen“ gibt es keinen Lehrplan, kein vorgefertigtes Bildungskonzept. Es wird kein Kind gezwungen etwas zu lernen, das es nicht braucht oder nicht will. Jedes Kind darf sich in seinem Tempo entwickeln und seinen natürlichen Neigungen folgen. Es wird davon ausgegangen, dass jedes Kind von Natur aus neugierig ist und somit ständig lernt, als einem angeborenen, untrennbaren Teil des Lebens. Der Hirnforscher Gerald Hüther hat eine sehr klare Antwort darauf, was Kinder brauchen, um glücklich zu sein:
“Ein Kind muss spüren, dass es so wie es ist richtig ist. Dass es um seiner Selbst willen und bedingungslos geliebt wird. Das ist die wichtigste Erfahrung, die jedes Kind braucht”, sagte Hüther der Huffington Post. Es gibt nur sehr wenige Kinder, die um ihrer Selbst willen geliebt werden. Die meisten Eltern sind an dieser Stelle vermutlich überzeugt, dass ihr Kind diese Erfahrung gemacht hat. Jeder würde wohl von sich behaupten, dass er sein Kind bedingungslos liebt. Aber stimmt das wirklich? Gerald Hüther ist anderer Meinung. “Es gibt ganz wenige Kinder auf der Welt, die das Glück hatten, um ihrer Selbst willen geliebt zu werden. Und diese Kinder zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie sich nicht anstrengen müssen in der Welt, um Bedeutsamkeit zu erlangen”, sagte er der HuffPost. Kinder sind dann am glücklichsten, wenn sie nicht das Gefühl haben, sich anstrengen zu müssen, um von ihren Eltern geliebt zu werden. Doch diese Erfahrung machen viele von ihnen eher selten. Viele Kinder haben zum Beispiel das Gefühl, dass ihre Eltern sie mehr lieben würden, wenn ihre Schulnoten besser wären. Oder wenn sie immer artig und hilfsbereit wären, nie widersprechen oder in Wut ausbrechen würden. Wird ein kleines Kind zum Beispiel für einen Wutanfall bestraft, in ein anderes Zimmer geschickt oder ausgeschimpft, lernt es: Meine Gefühle sind falsch. Ich muss sie unterdrücken, damit Mama und Papa mich wieder lieb haben. Harald Lesch geht dieser Frage auf den Grund. |
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